Tag 15 - Donnerstag
Beim Frühstück unter dunklen Wolken stelle ich schon mal den englischen Sender BBC ein, weil im französischen Radioprogramm zuviel gequatscht wird. Doch BBC-Kent hat während meiner Frühstückszeit keinen Penny an die Gema zahlen müssen - weil die eben auch keine Musik spielen.
Seit gestern ist das Zweitaktöl alle und ich suche den Platzwart auf. Wenn ich seinen Blick von gestern Abend richtig gedeutet habe, hat er ein Faible für solche Gefährte wie meins und kennt sich aus. Er zeigt mir den Weg zum Öl: eine Opel-Werkstatt, die auch eine Tankstelle hat.
Frisch betankt mache ich mich - im Regen - auf den Weg nach Calais zur Fähre. Die Straße, die ich wähle, führt durch die paar Küstendörfer und erfordert reichlich Schalten, denn diese Gegend besteht hauptsächlich aus hohen Dünen und der Alsphalt liegt einfach nur auf dem Sand. Deshalb geht es - wenn auch immer nur kurz - steil bergauf und bergab.
Im Fährhafen steuere ich den nächsten Ticketschalter an und muss 81 Euro bezahlen. Für eineinhalb Stunden Fahrt - ein teurer Spaß. Der Ticketofficer weist mich an, mich am Einlass 11 anzustellen und ich reihe mich brav in die Schlange ein. Als ich dran bin, bekomme ich zu hören, dass genau das ein Fehler war, mit dieser Fähre komme nicht mehr mit. Ich hätte mich tatsächlich mit meinem Gefährt vordrängeln müssen. Na, warum sagt man mir das nicht vorher?
Die nächste Fähre geht in 90 Minuten und die nächste Stunde verbringe ich ganz allein mitten auf einem Riesenparkplatz 50 Meter vom Fähranleger entfernt - glücklicherweise hat es aufgehört zu regnen. Die folgende halbe Stunde gesellen sich immer mehr Fahrzeuge zu mir und ich bin schnell in Gespräche mit den Mitreisenden vertieft. Fast zu tief, denn die freundliche junge Dame vom Fährpersonal muss mich ansprechen, ihr Handzeichen habe ich nicht gesehen: zur Belohnung für die lange Wartezeit darf ich als erster auf die Fähre rollen.
Hier sehe ich den Grund dafür, warum ich mich hätte "vordrängeln" müssen: für Motorräder gibt es ganz vorn spezielle Plätze, auf denen sie bei jedem Seegang sicher stehen, die aber nur erreichbar sind, wenn noch keine anderen Fahrzeuge den Weg versperren.
Mitten auf dem Kanal ziehen sich die Wolken für 10 Minuten ein wenig zurück und lassen die Sonne halbwegs scheinen. Ich denke an Bleriot, der vor fast 100 Jahren diese Strecke im selbstgebauten Flugzeug zurückgelegt hat, nur 100 Meter höher als ich jetzt. Was mag wohl in seinem Kopf vor sich gegangen sein während des Fluges? Wenn ich mit meinem Roller fahre, dann höre ich auf die Maschine, achte auf irgendwelche verdächtigen Geräusche: hat der Motor was, klingelt er, ist vielleicht Dreck im Vergaser, ist die Zündung in Ordnung? Doch: wenn mein Roller irgendwas hat, dann bleibt er im Zweifelsfall einfach stehen und ich kann sehen, wie ich weiterkomme. Wenn bei Bleriots Flugzeug irgendwas gewesen wäre, dann hätte es ihn eben mal das Leben kosten können. Was muss das für ein grenzenloses Vertrauen gewesen sein. Oder Wagemut?
Um 16 Uhr bin ich auf englischem Boden. Da hier wie auf der Fähre die britische Uhrzeit gilt, habe ich den Kanal nach Uhr in nur 30 Minuten überquert, 5 Minuten schneller als Bleriot. Scherz beiseite, ich habe mir in den letzten Minuten an Bord noch mal eingebläut: Links fahren, Links fahren, Links fahren ... Völlig überflüssig! Wenn man vom restlichen Verkehr der Fahre auf britische Straßen gespült wird, ist man automatisch auf der linken Straßenseite, ob man will oder nicht. Allerdings auch auf einer der beiden Autobahnen, ob man will oder nicht. Und da wollte ich eben nicht hin....
Deshalb fahre ich die nächste Ausfahrt ab und stehe dort vor einer roten Ampel, die erst nach 3 Minuten eine freundliche grüne Farbe zeigt. Die Straße führt durch einen Tunnel und danach bin ich wieder an der Kanalküste. Allerdings auch auf einem Parkplatz, von dem keine Straße weiterführt: ich bin auf Samphire Hoe gelandet, einer "Gedenkstätte" für den Eurotunnel. Hier wurde die Kreide, die auf englischer Seite dem Tunnel Platz machen musste, unter den Shakespeare-Klippen ins Meer geschüttet und so entstanden 36 Hektar neues englisches Land. Straßentechnisch ist dieser Ort eine Halbinsel, denn es führt genau eine Straße wieder zurück, nämlich die Straße, auf der ich gekommen bin. Und deshalb bin ich kurze Zeit später wieder auf der Autobahn unterwegs in Richtung Folkestone - mit 50 km/h, denn die Autobahn geht erstmal steil bergauf.
In Folkestone komme ich endlich runter vom Motorway und fahre ins Stadtzentrum. Auf der Einfallstraße wundere ich mich über die vielen Schilder mit Aufschriften wie "Drive slow", "Watch your speed", "Drive carefull", "Speed Cameras". Im Zentrum bewundere ich kurz den Hafen, finde den üblichen Stadtplan und mache mich auf den Weg via Küstenstraße Richtung Westen. Auf dieser vierspurigen Ausfallstraße sieht es schildertechnisch genauso aus, aber die Verwunderung weicht langsam der Erkenntnis, warum es diese Schilder gibt: die Engländer fahren "wie Sau"! Viel zu schnell, völlig rücksichtslos, jede Lücke ausnutzend. Ich muss als nichtsahnender Kontinentaler mit meinem untermotorisierten Gefährt höllisch aufpassen, nicht unter die Räder zu kommen. So hatte ich mir das nicht vorgestellt in einem Land, in dem das Wort "Oldtimer" nach meiner bisherigen Kenntnis sehr groß geschrieben wird.
Auf halbem Weg zwischen Folkestone und Hastings biegt die Küstenstraße nach Nordwesten ab und an einem großen Kreisverkehr wieder nach Südosten. Ich nutze diesen Ort zu einer Pause (Angstschweiss abwischen), zum Ziehen von britischen Pfund und zum Verlassen der Küstenstraße. Der kürzeste Weg zum Bellatreffen führt eigentlich genau durch London, aber ich habe schon vorher beschlossen, diese Region großzügig zu umfahren. Deshalb muss ich irgendwie südlich von London nach Westen, kann mich London ja aber schon mal vorsichtig nähern. Und was sehen vom Land ...
Die Straßen, die ich ab jetzt befahre, sind auf der Karte alle gelb gezeichnet. Gelbe Straßen sind an und für sich gute Straßen, die gelbe Farbe signalisiert wenig Verkehr, allerdings sind in meiner Karte ganz viele Straßen gelb eingemalt, es ist keine durchgehende Route zu erkennen. Und so ist es auch: ich muss unheimlich oft die Karte benutzen, um wirklich nach Westen zu kommen. Der Himmel ist dick bewölkt, ab und zu ein wenig Regen, ich kann nicht ausmachen, wo die Sonne steht und somit auch die Himmelsrichtung nicht bestimmen. Und noch etwas kann ich nicht sehen: das Land! Die Straßen hier sind von alten hohen Hecken gesäumt, nichts außer Asphalt und Hecken und alle paar Kilometer mal ein Dorf. Auf diesen wenig befahrenen Strecken muss ich schon daran denken, links zu fahren, aber nach etwa einer Stunde ist das Linksfahren ganz normal.
In Hurst Green halte ich an einer Tourist Info und frage nach einem Campingplatz. Das ist allerdings hier nicht so leicht, wie sonst, denn der Mitarbeiter des Büros hat meinen Roller entdeckt und löchert mich mit Fragen, erzählt mir, dass er selber gern so einen Roller gehabt hätte und so fort. So vergeht eine Viertelstunde und ich muss hartnäckig auf den Himmel weisen und ihm damit andeuten, dass es nass und spät ist und ich ein Zelt über dem Kopf brauche. Es gibt hier keine Camping Site, aber er schickt mich nach Heathfield, wo seiner Kenntnis nach vor dem Ort ein Platz sein soll. Der Mann hat recht, 12 Meilen weiter finde ich den Platz - direkt an einer vielbefahrenen A-Road gelegen.
Als ich dort einbiege, steht in der Platzeinfahrt schon ein selbstgebautes Wohnmobil auf Mercedes 308-Basis mit einem jungen Paar. Ich erfahre von ihnen, dass der Platzwart nicht in seinem Büro ist und so machen wir uns auf die Suche. 5 Minuten später treffen wir uns wieder und der junge Mann hat den Platzwart im Schlepptau, ein kleiner dicklicher 70jähriger mit krummem Rücken. Die beiden jungen Leute waren vor mir da, aber sie sind so gut wie vergessen, als der alte Mann die Bella sieht. Sofort ist da ein jugendliches Leuchten in seinen Augen und er umkreist wortlos mit gebanntem Blick mein Gefährt. Der junge Mann und ich sehen uns an, er gibt mir ein "ich versteh schon"-Zeichen und wir beide warten ab. Dann kommen die üblichen Fragen (Baujahr, PS, Hubraum, woher, wohin usw.), ich antworte, der Alte erzählt. Er war früher mal Zweiradmechaniker und hat hin und wieder mal solche Roller in den Fingern gehabt. Er ist mit seinem Chef auch ab und zu mal auf Motorshows gewesen und hat dort davon geträumt, so einen Roller sein eigen nennen zu dürfen. Es sind schöne Roller und so „reliable“ und so eine tolle Straßenlage! Aber das Geld hat nie gereicht und dann kam die Familie und so ist er dann nie zu einer Bella gekommen.
Dies ist der Moment, an dem ich bedaure, allein gefahren zu sein. Ich habe einen Fotoapparat mit und will einen Reisebericht mit Bildern schreiben. Aber diesen Mann kann ich nicht fotografieren, jetzt, da er mit mir spricht. Es geht nicht, ich kann ihm nicht aus 70 cm Entfernung die Kamera ins Gesicht halten, um vielleicht dieses Leuchten einzufangen. Ich bräuchte einen Paparazzi, der mit einem Teleobjektiv aus 10 Meter Entfernung die Bilder einfängt, die ich gern hätte.